Im Interview 65 SPEKTRUM: Was war die Veranlassung, ein kritisches Wörterbuch zum Thema Pflege und Soziale Arbeit he- rauszugeben? Charlotte Jurk: Heutzutage herrscht ein System der per- manenten Leistungssteigerung, das sich auch im Qua- litätsmanagement manifestiert. Das haben wir nicht mehr nur in der Industrie, sondern auch im Bereich der Pflege oder der Sozialen Arbeit. Das hat uns, Reimer Gro- nemeyer und mich, veranlasst, das kritische Wörterbuch herauszugeben, wobei der Titel „Entprofessionalisieren wir uns“ ironisch gemeint ist: Wir sind der Meinung, dass es schon eine Entprofessionalisierung ist, wenn man an die Arbeit mit Menschen die gleichen Maßstäbe anlegt wie an die Produktion von Dingen. Pflege im Minutentakt ist unserer Auffassung nach nicht professionell. In der Pflege und der Sozialen Arbeit kommt es vielmehr darauf an, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören und Beziehungen zu stiften, will man seine Arbeit gut machen. Das Anbieten standardisierter Lösungen, wie es momentan gefordert und praktiziert wird, erscheint uns als Rückschritt. Womit beschäftigt sich das Buch genau? In unserem Buch wollten wir vor allem die sich wan- delnde Sprache im sozialen und pflegerischen Bereich untersuchen, die mehr und mehr von ökonomischen Begrifflichkeiten durchdrungen ist und ökonomischen Werten verpflichtet. Als Herausgeber haben wir Freunde und Wegbegleiter gefragt, welche Begriffe sie unter die Lupe nehmen, sie ‚aufspießen‘ wollen. Da waren ganz allgemeine Begriffe dabei wie: Was ist Würde? Was ist Inklusion? Was ist Kompetenz? Und wir haben gefragt: Was bedeuten diese Begriffe eigentlich, und wie werden sie heute verwendet? Dabei wird deutlich, wie abstrakt das Sprechen über menschliche Erfahrungen und Kon- flikte heute geworden ist. Das professionelle Sprechen wird mehr und mehr von der Vorstellung einer Mach- barkeit beherrscht, die das Technische und Funktionale im Fokus hat. Inwieweit sind Kenntnisse der Psychologie und ihrer Schwesternwissenschaften für Studierende der Sozialen Arbeit, der Pflege oder der Pflegepädagogik wichtig? Kenntnisse der Psychologie und ihrer Schwesternwis- senschaften sind eigentlich schon lange Bestandteil des Studiums Sozialer Arbeit. Es ist wichtig, die verschiedenen Theorien über den Einfluss der Psyche auf das mensch- liche Handeln zu kennen, um dieses besser zu verstehen. Das psychiatrische Wissen verdrängt allerdings heute mehr und mehr pädagogische und sozialarbeiterische Sichtweisen. Soziale Arbeit ist heute mit einem Thera- peutisierungsschub in allen Bereichen des Sozialen kon- frontiert, wobei das medizinische Paradigma seit etwa 20 Jahren zunehmend an Einfluss gewinnt: Die psychia- trischen Diagnosen nehmen immer mehr zu, und das auch in der betrieblichen oder der schulischen Sozialarbeit. Gerade bei Kindern wird dies besonders klar: Hier gibt es zunehmend Diagnosen wie ADHS, Asperger-Syndrom, Autismus oder auch Depression. Wie bewerten Sie diese Entwicklung? Indem man diese Kinder als krank diagnostiziert, macht man deren Verhaltensauffälligkeiten zum Problem der Kinder und ihrer Eltern. Darauf wird der Blick gelenkt, statt zu fragen, welche Lebensumstände – und das ist eine gesellschaftliche Frage – ‚kränkend‘ sind. Kindheit steht heute vom ersten Tag an unter dem Druck, Zweck zu sein für Leistung und Erfolg. Wir sehen die ständige Normierung und Messung von Verhaltensweisen in Kin- dergarten und Schule. Kinder sind Symptomträger eines allgemeingesellschaftlichen Problems, zum Beispiel dem Fehlen von Freiräumen. Aber den klassischen „Zappelphilipp“ gab es ja zu frü- heren Zeiten auch, und damals wurde dieses Verhalten ebenfalls als ungewünscht markiert und entsprechend sanktioniert – durch körperliche Züchtigung oder Aus- schluss aus der Gruppe, oder? Ja, aber die Kinder und gerade auch die Eltern hatten nicht in dem Maße wie heute das Gefühl, durch die- se Verhaltensauffälligkeit sei die gesamte Zukunft der Kinder in Gefahr. Der Druck auf Kinder und Eltern ist in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft stärker. Und die Psyche ist auch zu einer zunehmend wichtigen Pro- duktivkraft geworden, das sieht man schon in den Stel- lenbeschreibungen: hohe Belastbarkeit, Stressresistenz, soziale Skills werden verlangt – oft paradoxe Fähigkeiten: Man soll durchsetzungsstark sein, aber auch sozial oder flexibel, kreativ und agil, zugleich aber auch verlässlich… Die Psyche ist als Produktivkraft heute viel stärker im Fokus als früher, und der inneren Befindlichkeit wird entsprechend mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Nichts gegen Therapien – daran ist nichts Schlechtes; es ist gut, sich besser verstehen zu wollen. Problematisch wird es da, wo die Therapie das gesellschaftliche Aufstehen bei- spielsweise gegen krank machende Arbeitsbedingungen verhindert. Insofern sehe ich den derzeitigen Therapeu-