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Klassismus und Kritik - Bürgergeldbeziehende als Feindbild autoritärer Politik?

Mit einem gut gefüllten Auditorium im C-Gebäude begann am vergangenen Donnerstagabend, 27. März, der Auftakt zur zweiten Staffel der Veranstaltungsreihe "Soziale Fragen" auf dem HWG-Campus. In Kooperation mit Professorin Immacolata Amodeo vom Ernst-Bloch-Zentrum hatten die Professoren Peter Rahn und Jörg Reitzig vom Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen die Reihe im vergangenen Wintersemester ins Leben gerufen. Am Beginn des Sommersemesters startete die Fortsetzung nun mit einem Vortrag von Francis Seeck, Professor*in für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschenrechtsbildung an der Technischen Hochschule Nürnberg. Im Mittelpunkt des Vortrags, bei dem das Publikum mittels Mentimeterabfragen und Murmelgruppen partizipativ einbezogen wurde, standen die Analyse klassistischer Abwertungen und empirische Befunde klassenmäßiger Distinktionsmerkmale, etwa hinsichtlich des unterschiedlichen Zugangs zu Bildung. Seeck verwies auf Ergebnisse der internationalen Grundschule-Lese-Untersuchung (IGLU), wonach Kindern aus Akademikerhaushalten von Seiten ihrer Lehrkräfte doppelt so häufig ein Gymnasialempfehlung prognostiziert wird, wie Kindern aus Arbeiterfamilien und letztere zudem für eine solche Empfehlung eine deutlich höhere Lesekompetenzleistung erbringen müssten. So erlangten von hundert Nichtakademikerkindern schließlich nur 20 einen Bachelorabschluss - bei Akademikern sind es 65. Und wenn derzeit in Politikerstatements zu Bürgergeldbeziehenden häufig von Totalverweigerern gesprochen wird, werde übersehen, dass dies lediglich auf ca 16.000 Bezieher:innen von Bürgergeld zutreffe, während 1,8 Mio. Leistungsbezieher Kinder und Jugendliche sind. Weitere 2 Mio. stehen dem Arbeitsmarkt nicht für weitere Tätigkeiten zur Verfügung, weil sie alleinerziehend sind, Angehörige pflegen oder aber als sogenannte 'Aufstocker' von ihrer Erwerbsarbeit nicht auskömmlich existieren können. Dabei sei der Mindestlohn mit einem Plus von rund 35 Prozent in den zurückliegenden Jahren deutlich stärker gestiegen als das Bürgergeld mit ungefähr 26 Prozent.

Die anschließende Diskussion, die von Peter Rahn moderiert wurde, verlief überaus lebendig. Das lag wohl nicht zuletzt auch an dem Gedankenexperiment, zu dem der Gast aus Nürnberg die Teilnehmenden am Schluss des Vortrags aufrief. Wenn, so sollten die Anwesenden überlegen, über Nacht ein Wunder geschähe und wir plötzlich in einer sozial gerechten Gesellschaft lebten, woran würde man am nächsten Morgen merken, dass das Wunder passiert ist? Während einige anführten, dass es dann keine Tafeln oder keine obdachlosen Menschen mehr gäbe, argumentierten andere, dass manche Einrichtungen der Sozialen Arbeit, in denen sie gegenwärtig tätig sind, dann vermutlich nicht mehr erforderlich wären. Die Vielstimmigkeit der Antworten zeugte von der Vielgestaltigkeit sozialer Probleme und Armutslagen in der realen Gesellschaft. Abschließend gefragt, ob dem Konzept von Klasse bei Bourdieu, auf das im Vortrag Bezug genommen wurde, mehr Bedeutung zukomme, als dem Klassenbegriff von Marx, konstatierte Francis Seeck, hier keine Hierarchie zu sehen. Eine gehaltvolle klassismustheoretische Kritik benötige jedoch eine differenzierte Datenlage, wie sie beispielsweise in den Jenaer Studien zur Klassenanalyse zu finden sei, die in der jüngeren Vergangenheit unter Leitung von Prof. Klaus Dörre vorgelegt wurden. Am Ende gab es dann noch die Gelegenheit, Bücher von Francis Seeck zu erwerben, was von den Teilnehmenden rege genutzt wurde, denn der Stapel war im Nu vergriffen.

Einen vorläufigen Abschluss findet die Reihe "Soziale Fragen" am Donnerstag, 8. Mai 2025, mit einem Vortrag von Prof. Kai Vöckler (Hochschule für Gestaltung Offenbach a. M.) zum Thema "Arrival Cities". Mit Bezug auf die Offenbacher Erfahrungen referiert er im Ernst-Bloch-Zentrum über die "Perspektiven und Herausforderungen einer Ankunftsstadt für Deutschland".

 

Vortrag im Auditorium
Gut besucht: der Vortrag der Veranstaltungsreihe "Soziale Fragen" im Auditorium der HWG LU (Bild: HWG LU/Soziale Arbeit)
Moderator und Vortragende im Gespräch
Moderator Prof. Peter Rahn und Referentin Prof. Francis Seeck (Bild: HWG LU/Soziale Arbeit)
Referentin Prof. Francis Seeck
Referentin Prof. Francis Seeck (Bild: HWG LU/Soziale Arbeit)