44 FORSCHUNG & LEHRE Das Beispiel Griechenland: Wie gehen wir akademisch an komplexe Themen heran? Nur weniges war in den letzten Monaten in Zeitungen und Talkshows so präsent wie die Griechenland- Krise. Bekannte und uns bislang unbekannte Menschen präsentierten sich als Problemversteher und Welterklärer. Zahlen waren zu hören, Geschichten wurden erzählt und Krisenopfer schauten traurig in Kameras. Aber begreifen wir wirklich, was „da“ passiert? Wie gehen wir als (angehende oder tatsächli- che) Akademikerinnen und Akademiker damit um? J e komplexer die Situation, die wir zu erklären versuchen, desto größer ist die Gefahr der unangemessenen Vereinfachung. Dabei ist die Vereinfachung selbst nicht das Problem. Im Gegenteil: Ohne Vereinfachungen könnten wir die Komplexität der Welt nicht begreifen. Wir müssen vereinfachen, denn jede Handlung, jedes Phänomen, jede Begegnung hat so unendlich viele Facetten, die uns vom Wesentlichen ablenken. So ist es auch erforderlich, zu vereinfachen, wenn wir versuchen, uns selbst oder anderen die Griechen- land-Krise zu erklären. Aber wie? Wie machen wir das, ohne auf das Niveau populärer Talkshows abzugleiten? Die erste Regel: meinungsneutral bleiben! Wissenschaftliche Analyse verlangt Neutralität. Das ist schwer. Sehr schwer. Gerade wenn die Po- lemik aus dem Fernseher tropft wie der Honig vom Brot und sich an die Argumente klebt. Es könnte so einfach sein: „Die Griechen“ sind unfähig, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen und so wei- ter. Aber in der akademischen Ausbildung lernen wir, auch Offensichtliches zu hinterfragen und uns eine eigene Meinung so lange zu verbieten, bis wir unsere Analyse abgeschlossen haben. Es zeichnet gute Wissenschaft aus, meinungsneutral zu bleiben. Auch eine gelungene Bachelor-Thesis erkennen wir daran, dass das Untersuchungsobjekt von allen Seiten betrachtet wird oder Hypothesen meinungs- offen überprüft werden, ohne dass der Studierende versucht, seine ganz persönliche Vorstellung vom Ergebnis zu „verkaufen“. Die zweite Regel: Struktur! Je komplexer das Problem, desto dringlicher ist eine Struktur für seine Analyse erforderlich. Struktur hilft, den Überblick zu behalten und Nützliches von Überflüssigem zu trennen. Das Ergebnis einer guten Strukturierung ist der „rote Faden“. Und im Falle unseres südeuropäischen EU-Partners? Auch hier gibt es Möglichkeiten, der Diskussion eine Struktur zu geben. Eine wäre, in vier Ebenen zu differenzieren (Abbildung 1). Damit lassen sich Argumente ordnen und wir erkennen, wenn in Ar- gumentationssträngen Ebenen vermengt werden: Das polemische Argument („Die Griechen sind alle Steuerhinterzieher.“) wird zur Grundlage finanzpo- litischer Forderungen („Darum müssen wir ihnen die Kontrolle über ihre Geldpolitik entziehen!“). von Jörg B. Kühnapfel Geopolitik Die Rolle Europas in der Welt Wirtschaftspolitik Volkswirtschaft & Wohlstand Finanzmarkt Schulden, Banken, Investoren Populismus Öffentliche Wahrnehmung Abb. 1: Argumentationsebenen in der Griechenland-Diskussion 44